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Seltene Erkrankungen: Spitzenforschung gefragt

Seltene Erkrankungen: Spitzenforschung gefragt

Die Zeit zwischen der Patenteinreichung bis zur Zulassung bei Medikamenten gegen seltene Erkrankungen ist im Schnitt 2,3 Jahre länger als bei Arzneimitteln gegen häufigere Leiden. Allein schon die Rekrutierungszeit von Patient:innen für klinische Prüfungen ist nachweislich länger. Die Erforschung von Krankheiten, über die wenig bekannt ist, stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen.

Wenn der Blutdruck in den Lungengefäßen zu hoch ist, sprechen Mediziner:innen von der Pulmonalen Arteriellen Hypertonie (PAH). Vor rund 130 Jahren erstmals beschrieben, dauerte die Entwicklung von Therapien sehr lange; erst in den vergangenen 20 Jahren wurden Medikamente entwickelt, die für die Betroffenen einen wirklichen Unterschied machen:

„Während Patient:innen mit dieser Form des Lungenhochdrucks noch vor zwei Jahrzehnten eine durchschnittliche Überlebensdauer von weniger als drei Jahren hatten“, schreibt Prof. Dr. Hossein-Ardeschir Ghofrani (Uni Gießen) im Biotech-Report 2022, „können Patient:innen heute mit modernen (Kombinations-)Therapien teilweise viele Jahrzehnte mit guter Lebensqualität erreichen.“ Den Report geben das Beratungsunternehmen BCG und der Pharmaverband vfa bio jedes Jahr heraus.

Die PAH ist eine seltene Erkrankung. In Deutschland schätzt man die Zahl der Betroffenen auf 2.000 bis 5.000. Dass sie heute erfolgreich behandelt werden können, ist das Ergebnis von wissenschaftlichen Erkenntnissen: Sie haben die Ansätze geliefert, um einen therapeutischen Hebel entwickeln zu können.

Prof. Dr. Ghofrani: „Einhergehend mit einer immer subtileren Beschreibung pathologisch-anatomischer Veränderungen wurden mehr und mehr molekulare, zelluläre und genetische sowie epigenetische Ursachen unterschiedlicher Formen des Lungenhochdrucks identifiziert, was in den vergangenen gut 20 Jahren auch zur Entwicklung zahlreicher, insbesondere medikamentöser Therapien der schwersten Formen des Lungenhochdrucks geführt haben.“

Vor einer erfolgreichen Arzneimittelentwicklung steht Erkenntnis – und genau die ist bei seltenen Erkrankungen oft nur lückenhaft vorhanden. Nur hohe Investitionen in die Wissenschaft sichern medizinischen Fortschritt.

Im Gegensatz zu häufigen Erkrankungen fehlen oft grundlegende Daten zur Krankheit selbst und ihren wichtigsten Treibern, was unter anderem auch die Diagnose erschwert. Viele so genannte Orphan Drugs basieren auf ganz neuen Wirkprinzipien, weshalb Erfahrungen und Protokolle aus früheren Studien fehlen – es gibt keine Blaupausen. Studiendesigns müssen neu konzipiert werden, weil Messparameter erst entwickelt und validiert werden müssen.

Hinzu kommt, dass sich seltene Erkrankungen sehr unterschiedlich und individuell manifestieren. Bei der Bindegewebserkrankung Sklerodermie etwa gibt es so gut wie keinen Standardverlauf. Auch das erschwert und verzögert die Diagnose; bei Menschen mit einer seltenen Erkrankung vergehen rund 6 Jahre, bis sie endlich Gewissheit haben. Nicole Schlautmann, Leiterin des Geschäftsbereichs Seltene Erkrankungen bei Pfizer, erklärt:

„Wir können aus diesen Gründen die klinische Forschung nicht so vorantreiben, wie wir das möchten, weil wir die Patient:innenbasis nicht haben. Denn wenn ich einen Wirkstoff entwickele, brauche ich eine klinische Studie mit einer gewissen Anzahl von Patient:innen. Und daher ist das Diagnose-Problem auch ein Problem für die Medikamentenentwicklung.“ Sie setzt sich dafür ein, die Zeit bis zur Diagnose deutlich zu verkürzen (Pharma Fakten berichtete).

Logistische Probleme kommen hinzu: Um eine statistisch signifikante Gruppe von Menschen mit einer seltenen Erkrankung zusammen zu bekommen, verteilen sich entsprechende Studienzentren über den gesamten Globus. „Aus all diesen Gründen dauert die Zeit von der Patenteinreichung bis zur Zulassung bei Medikamenten gegen seltene Erkrankungen im Schnitt 2,3 Jahre länger (durchschnittlich insgesamt ca. 15 Jahre) als bei Arzneimitteln gegen häufigere Erkrankungen“, heißt es dazu im Biotech-Report.

„Allein schon die Rekrutierungszeit für klinische Prüfungen ist bei seltenen Erkrankungen nachweislich länger als bei häufigen Krankheiten, und zwar bei nicht-onkologischen Erkrankungen um knapp 40 Prozent.“ Entsprechend sind die Kosten pro Patient:in in einer klinischen Prüfung für eine seltene Erkrankung oft deutlich höher.

Wenn Wissen rar ist, dann kann die digitale Technologie ihre Stärken ausspielen. Denn sie kann das wenige, was es gibt, förmlich zusammenkratzen, Zusammenhänge erkennen, Verknüpfungen identifizieren und zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Denn das ist eines der Probleme bei den „Seltenen“: Es gibt überall auf der Welt hochspezialisierte Zentren, die aber oft nicht miteinander vernetzt sind. Das generierte Wissen ist dort, wo es entsteht: In Arztpraxen, Kliniken, in Universitäten.

Die Vernetzung solcher Gesundheitsinformationen könnte viele der Geheimnisse aufdecken, die uns heute daran hindern, seltene Erkrankungen besser zu behandeln. „Indem alle Beteiligten, also Forscher:innen, Betroffene und behandelnde Ärzt:innen, fach- und standortübergreifend Zugang zu Daten und Unterstützung bei der Therapie erhalten, können Verbesserungen effektiver zu den Patient:innen gebracht werden“, so der Biotech-Report. Menschen mit seltenen Erkrankungen würden von der digitalen Transformation in besonderem Maße profitieren.

Das gilt nicht nur für die Diagnose dieser sehr komplexen Erkrankungen, sondern auch für die Aufschlüsselung ihrer Ursachen. Ein Grund, warum die Zahl der neuen Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen stetig steigt, liegt in dem immer besseren Verständnis, wie der Mensch auf genetischer Ebene funktioniert. Allerdings ist die Sequenzierung des Genoms kein wissenschaftlicher Selbstläufer: Bei den ca. 3 Milliarden Basenpaaren, die das genetische Alphabet des Menschen ausmachen, ist „lediglich einer oder nur wenige der 3 Milliarden ´Buchstaben` fehlerhaft.“

Wer nicht über digitale Tools verfügt, um aus dem Datenwust Sinn zu machen, wird feststellen: Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist dagegen ein Kinderspiel. Daher spielt „Künstliche Intelligenz (KI) eine immer größer werdende Rolle: KI kann mit Hilfe neuronaler Netze Zusammenhänge erkennen, die für Menschen nicht unmittelbar ersichtlich sind.“

Trotz dieser Herausforderungen ist die Forschung und Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen auf der Erfolgsspur: In den europäischen Zulassungsstatistiken der vergangenen 10 Jahre ist jedes dritte Arzneimittel ein Orphan Drug. Aber angesichts von rund 8.000 seltenen Krankheiten gilt immer noch: 98 Prozent sind nicht kausal behandelbar. Den Forscher:innen in den Pharma-Laboren dieser Welt wird die Arbeit so schnell nicht ausgehen.

pharma-fakten.de  

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